Schüssel: "Europa muss aufwachen und selbstständig werden"
Zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin, den er vor 25 Jahren als aktiver Politiker selbst kennengelernt hatte, meinte Schüssel: "Putin hat sich völlig verändert. Er war ein ganz anderer Mensch, als ich ihn zum ersten Mal in St. Anton traf: offen, sehr rational, kontrolliert, hochintelligent und international interessiert." Putin wollte Russland damals glaubhaft nach Europa führen, analysierte der Ex-Bundeskanzler, der am Samstag seinen 80. Geburtstag feierte.
Putins Abkehr von dieser Linie sei ein "schleichender Prozess" gewesen. "Die orange Revolution in der Ukraine spielte eine Rolle. Die Debatte um einen NATO-Beitritt der Ukraine, den Merkel 2008 beim Gipfel in Bukarest abbog, war auch eine Wegmarke." Weiters hätten die von Alexej Nawalny angeführten Massenproteste in Moskau 2011 und auch "seine monatelange Corona-Quarantäne" zur Verhärtung beigetragen und zu seinem nunmehrigen "neoimperialistischen Grundmotiv" beigetragen. "Heute ist die Sache vollkommen aussichtslos. Mit Putin wird es kein Zurück mehr geben können."
Kanzler in "OÖN": Ukraine darf Krieg nicht verlieren
Gegenüber den "Oberösterreichischen Nachrichten" (Samstags- und Online-Ausgabe) meinte Schüssel zudem bezüglich der Entwicklung Putins: "Etwas von diesem Zug muss es bei ihm immer schon gegeben haben, sicher. Aber in der ersten Phase musste man ihm den Reformer abnehmen. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass das so bleiben wird, und uns gemütlich in der Friedensdividende eingerichtet."
Bezüglich der von Experten geäußerten Gefahr, dass der Ukraine-Krieg nach Mittel- oder Westeuropa übergreifen könnte, gab sich Schüssel in den "OÖN" zurückhaltend und "vorsichtig". Aber: "Es ist schon traurig genug, dass es in Europa bereits Krieg in der Ukraine gibt, und ich fürchte, der ist noch lange nicht vorbei." Es dürfe aber nicht sein, "dass die Ukraine verliert".
"Demokraten haben durch übertriebenen Wokismus verloren"
Bezüglich der innenpolitischen Entwicklungen in den USA warf der ÖVP-Altpolitiker der Demokratischen Partei in der "Presse" vor, durch "übertriebenen Wokismus" die Arbeiterschaft und die Mitte verloren zu haben. In der Republican Party habe wiederum Donald Trump eine Art Alleinherrschaft errichtet. "Das ist nicht gut. Derzeit sind die Republikaner mehrheitsfähig, aber zum Teil auch deswegen, weil die Demokraten alles getan haben, damit sie die letzte Wahl verlieren."
Zusammenfassung
- Wolfgang Schüssel fordert angesichts der Politik von Trump, Putin und China eine eigenständig und abschreckungsfähige EU und warnt: "Europa muss aufwachen, sich die Augen reiben, aufstehen und selbstständig werden."
- Bezüglich des Ukraine-Kriegs betont Schüssel, dass die Ukraine nicht verlieren dürfe, und äußert sich vorsichtig zu einer möglichen Ausweitung des Konflikts auf Mittel- oder Westeuropa.