Nach Amoklauf in Graz
BORG Dreierschützengasse: Ein schwerer Weg zurück
Vor dem BORG Dreierschützengasse in Graz parken noch einzelne Fahrräder. Sie stehen hier seit vergangenem Dienstag und wurden nicht abgeholt.
Vielleicht werden einige davon nie wieder abgeholt.
Über eine Woche ist es nun her, dass in dieser Schule zehn Menschen, neun Schüler:innen und eine Lehrerin, getötet wurden.
Wie gehen Anrainer:innen und Betroffene mit dem Geschehenen um? Welche Fragen stellen sie sich? Und wie geht es für die Schüler:innen weiter?
- Mehr lesen: Motiv weiter unklar
PULS 24 hat eine Woche nach dem Amoklauf in Graz Gespräche mit Anwohner:innen, Angehörigen und Opfern, die das wollten, geführt und versucht, ihre Schilderungen, ihre Sorgen, ihre Trauer, ihre Wut und ihre Fragen in einer Reportage zusammenzutragen.
Für vieles sind Worte zu schwach. Vieles kann derzeit noch nicht beantwortet werden. Vieles muss im Rahmen des Opfer- und Persönlichkeitsschutzes unerwähnt bleiben.
Vieles wirkt in Graz derzeit fehl am Platz. Darunter auch so manche Frage von Reporter:innen.
Begreifen und Erinnern
Manche:r hat viel zu sagen, möchte damit jedoch (noch) nicht an die Öffentlichkeit. Nach Gesprächen bedankt man sich dennoch auch fürs Zuhören. Man bedankt sich, dass Opfern und Angehörigen eine Stimme gegeben und zur Erinnerung an die Toten beigetragen wird.
Fehl am Platz wirkt nun auch das bunte Graffiti an der grauen Wand der Schule: "Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entzündet werden will", steht da geschrieben.
Graffiti am BORG Dreierschützengasse.
Das Schild am verschlossenen Eingangstor mit der Aufschrift "Zutritt für Unbefugte verboten" wirkt jetzt sogar zynisch.
Das Schild, das darauf hinweist, dass der Gehsteig vor der Schule wegen Rutschgefahr gesperrt werden musste, wurde hingegen zu Recht angebracht. Das Wachs von tausenden Kerzen bedeckt den Asphalt.
Ständig, bis spät in der Nacht, kommen Menschen, um neue - und alte wieder – anzuzünden. Blumen, Stofftiere – Koalas, Bären oder Elefanten - kleine Botschaften und Fotos erinnern an die Verstorbenen. Partezettel kündigen die ersten Begräbnisse und Trauerfeiern für sie an.
"Wir werden euch niemals vergessen", steht auf einem Zettel. Die Toten waren "Bruderherz", "beste Freundin", "Sohn", "Schulkollegen", "Cousin" und noch viel mehr.
Die Frage "Warum" steht auf vielen Botschaften geschrieben. Es ist von einer "sinnlosen Tat" zu lesen. Auch die Wünsche nach "Zusammenhalt", nach weniger Gewalt und weniger Waffen finden sich auf den Zetteln.
Kerzen vor der Schule
Es kommen auch Menschen vorbei, für die die Opfer eigentlich Fremde waren. Fußballclubs – auch aus Deutschland oder Italien – ein Boxclub und andere Schulen sandten Botschaften.
Jung und Alt kommt zusammen, um sich auszutauschen, um gemeinsam zu trauern und zu verarbeiten. Tagsüber steht vor der Schule nach wie vor ein Kriseninterventionsteam zur Verfügung.
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Eine Frau, die 10 Minuten mit dem Auto von der Schule entfernt wohnt, kam mit ihrer Tochter. Sie sei gekommen, "um zu begreifen", sagt sie. Begreifen, dass so etwas "wirklich in dieser Stadt", in unmittelbarer Nähe ihres Wohnorts passiert ist.
Die gesamte Stadt sei viel ruhiger geworden. Die Tochter meint, sie nehme die bedrückte Stimmung besonders in den Bussen – sie alle wurden mit schwarzen Trauerschleifen versehen – wahr. Viele würden seit Dienstag vor einer Woche betreten zu Boden sehen, schildert sie.
Trauerschleife auf einem Bus in Graz.
Schulen sollten der sicherste Ort sein, sagt ihre Mutter. Dass die Tat in einer Schule passiert sei, sorge bei ihr nun auch für Unsicherheit. "Wo ist man dann noch sicher?", fragt die Frau.
Auch ihre Tochter spricht von einem Unsicherheitsgefühl und erwähnt die Bombendrohungen gegen verschiedene Schulen und Bahnhöfe – auch in Graz.
Immer wieder fährt eine Polizeistreife an der Schule vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Nach der Tat halten auch Trittbrettfahrer die Behörden auf Trab. Dafür fehlt sowohl Mutter und Tochter jegliches Verständnis.
Die Frage "Warum?"
Obwohl es sie beschäftigt, wollen die beiden eigentlich nicht weiter darüber sprechen. Der Fokus sollte "weg vom Täter", sagen sie. "Die Opfer sollten nicht vergessen werden." Das sei wichtiger.
Das betonen hier viele. Und dennoch landen die Gespräche vor der Schule immer wieder bei offenen Fragen zum Tathergang und zu einem möglichen Motiv.
Selbst unter Schüler:innen des BORG kursieren noch Gerüchte und Spekulationen.
Was war mit der Überwachungskamera vor der Schule? Wieso entdeckte niemand die Waffen? Warum wurde genau in diesen zwei Klassenräumen geschossen? Sagte der Täter während des Amoklaufs etwas? Was hätte er mit der Bombe vorgehabt? Warum schoss er überhaupt?
Die Ermittlungen der Polizei zu all diesen Fragen - wenn sie denn geklärt werden können - dauern noch an.
"Hat er vor der Tat in der Schule noch eine Nachbarin erschossen?", fragt eine Anrainerin. Nein, das stimmt sicher nicht.
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Warum konnte jemand, der bei der Stellung als untauglich eingestuft wurde, Waffen kaufen? Warum besaß ein 21-Jähriger überhaupt Waffen? Darauf wird die Politik Antworten liefern müssen.
Täter wurde nicht gemobbt
Einer, der mit dem späteren Täter einst zur Schule ging, mit ihm auch Computerspiele spielte, erzählt PULS 24, dass eines sicher nicht stimme: Dass der spätere Täter während seiner Schulzeit gemobbt worden sei.
Diese Erzählung wertet man im Umfeld der Schule als Täter-Opfer-Umkehr. Viel mehr habe der Täter die anderen Schulkolleg:innen gemieden.
Auch die Polizei betonte, dass sie bisher keine Hinweise auf Mobbing gefunden habe.
Verarbeiten und Weitermachen
Auch dort, wo der Täter wohnte, will man über ihn nicht mehr sprechen. Man wisse ohnehin wenig über ihn. Man kannte ihn nur "vom Sehen", sagt ein Jugendlicher.
Nach Dienstag sei dauernd Polizei im Viertel gewesen – und zahlreiche Medien, schildert er. Nun sei es wieder ruhiger geworden.
In dem Vorort von Graz plantschen wieder Kinder im Pool, es wird gegartelt. Man könne zu der Sache nichts mehr sagen, wolle zurück zur Normalität.
Angehörige des Täters wurden hier seit Tagen nicht mehr gesehen, erzählt man. Sie dürften zumindest vorübergehend weggezogen sein. Vor ihrem Haus wurden aber ebenfalls zwei Kerzen aufgestellt. Sie erinnern daran, dass auch hier ein Zurück zur Normalität nicht leichtfällt.
So auch in der Grazer Innenstadt: Die Gastgärten sind gefüllt, ein Mann feiert mit seinem Master-Hut seinen Uni-Abschluss, Weltenbummler verkaufen selbstgebastelte Armbänder, um sich die Weiterreise zu finanzieren. Doch am Hauptplatz wurde ebenfalls ein Kerzenmeer entzündet.
Auch hier reißt die Anteilnahme nicht ab. Sogar Beileidbekundungen aus der Ukraine mitsamt Teddybären mit blau-gelben Bändern wurden aufgestellt. An Sträuchern hängen "Sorgenwürmchen" mit Botschaften. "So viel Trauer", "alles so sinnlos" ist auch hier zu lesen.
Orte der Erinnerung und Trauer, Orte, an welchen das Erlebte gemeinsam besprochen werden kann, scheinen für die Schüler:innen des BORG derzeit besonders wichtig zu sein.
Ein Freibad ermöglichte ihnen kostenlosen Eintritt, in einer Halle in der Nähe der Schule gibt es nach wie vor psychologische Betreuung und Platz für Treffen. Bei einer Trauerfeier wurden dort leere Stühle mit den Namen der Toten aufgestellt.
- Pädagogin: "Lebenskerze für Kinder erloschen"
In der Schule selbst finden mittlerweile Reinigungs- und Renovierungsarbeiten statt. Für die trauernden Schüler:innen und Lehrer:innen wurde bislang die Aula nur einmal kurz geöffnet.
"Auf ausdrücklichen Wunsch" der Schüler:innen habe man einen "behutsamen Wiedereinstieg ins Schulgebäude" ermöglicht, so die Bildungsdirektion Steiermark. "Es waren berührende Momente", teilt ein Sprecher mit.
Ab Montag sei eine gestaffelte Rückkehr in die Schule geplant – mit einem freiwilligen Betreuungsangebot durch das Kriseninterventionsteam und die Schulpsychologie.
Regulärer Unterricht findet heuer nicht mehr statt, der Notenschluss ist bereits erfolgt. Die Matura wird auch ohne mündliche Prüfungen anerkannt. Freuen kann sich darüber niemand.
- Mehr lesen: Mündliche Matura kann entfallen
Am Mittwoch wurden die Tore zur Schule für Lkw und einen Kran geöffnet: Sie lieferten Container aufs Schulareal. Die mobilen Klassen sollen bis voraussichtlich Oktober Aktivitäten und Betreuung abseits des Schulgebäudes ermöglichen.
Die vielen Kerzen vor der Schule ließen auch die Lkw-Fahrer, die sie anlieferten, nicht kalt. Einer stoppte sogar seine Arbeit, um ein Foto davon zu machen.
"Ich würde mich nicht mehr trauen, da reinzugehen", sagen zwei junge Burschen, die zum Kerzenmeer gekommen sind.
"Ziel ist, dass bis Schulschluss möglichst alle wieder einen Zugang zur Schule finden", teilt die Bildungsdirektion mit.
Leicht wird das nicht.
Video: Pressekonferenz zum Ermittlungsstand
Zusammenfassung
- Beim Amoklauf am BORG Dreierschützengasse in Graz wurden vor über einer Woche zehn Menschen, darunter neun Schüler:innen und eine Lehrerin, erschossen.
- Das Motiv des 21-jährigen Täters ist weiterhin unklar, die Ermittlungen der Polizei dauern an.
- Ein Kerzenmeer, Blumen und zahlreiche Botschaften vor der Schule sowie Beileidsbekundungen aus dem In- und Ausland zeugen von großer Anteilnahme.
- Die Schüler:innen und Lehrer:innen kehren gestaffelt und freiwillig ins Schulgebäude zurück, begleitet von psychologischer Betreuung, während der reguläre Unterricht bis Schuljahresende entfällt.
- Die Matura wird ohne mündliche Prüfungen anerkannt, und mobile Klassencontainer sollen bis Oktober Aktivitäten und Betreuung außerhalb des Gebäudes ermöglichen.